Zu dick um abzugehen

von Matthias Weigel

Heidelberg, 1. Mai 2015. Dicke Jugendliche sind die dicken Erwachsenen von morgen. Und da Dicksein eine Krankheit ist, die ausgemerzt werden muss, fängt man am besten bei den jungen Leuten an. So haben es die dicken Kinder in der Kurklinik längst verinnerlicht, als der Neue hinzustößt. Oder vielmehr hinzupurzelt; er fällt in die grauschattierte Schüssel hinein, in dieses 70er-Jahre-Erziehungs-Raumschiff in den Bergen, in dem Dominic Friedels Inszenierung vom Theater Bern spielt.

Seymour1 700 Annette Boutellier uFatsuits in der Enterprise-Kurklinik © Annette BoutellierAnne Leppers Stück "Seymour oder Ich bin nur aus Versehen hier" zielt auf den ersten Blick ganz unverblümt in Richtung Optimierungswahn und Schönheitsfimmel. Leo, der Neue, trifft in der Klinik auf vier Leidensgenoss*innen – und einen Dünnen. Während sich die fünf dicken, von ihren Familien verstoßenen Kinder mit läppischen Leibesübungen selbst beschäftigen, rekelt sich der dünne Sebastian im Hintergrund auf dem "Gemeinschafts-Diwan". In ihren Fatsuits kullern die Jugendlichen schuldbewusst durch ihre verlassene Welt, werden aber nichts mehr ändern können – ihre Familien haben sie zuhause längst durch andere, hübschere und dünnere Kinder ersetzt. Selbst der "Doktor Bärfuss", nach dessen Regeln hier getanzt werden muss, lässt sich in der Klinik nicht blicken.

Comichafte Welt

Deshalb herrscht in diesem Kurhaus Stillstand. Niemand nimmt ab, nichts tut sich. Bis sich schließlich Max an seinem Gürtel erhängt – er wird wohl nicht der einzige bleiben. Hat ihn unsere böse Gesellschaft in den Tod getrieben, die jeden zu Modelmaßen und Selbstoptimierung verdammt?

So über-offensichtlich diese Lesart scheinen mag, in dem abstrakt-absurden Setting wird nicht gegen "Germany's next Topmodel" oder fürsorgevernachlässigende Familien gewettert. Regisseur Dominic Friedel zeichnet vielmehr eine comichafte, künstliche Welt, stülpt den Text mit so mancher Wiederholungsschleife formalisiert über verschiedene Settings. Während Leo im Nachtlager mit der Taschenlampe umherleuchtet oder Federn pustend in der Schwebe gehalten werden, läuft der meist schmucklose, geradlinige Text ab. Zwischendrin wird mal ein Brief an Angela Merkel geschrieben, oder der schöne Sebastian rutscht als verrottende Leiche vom Sessel.

Großartige Schlusspointe

Doch am Ende der neunzig Minuten ist dann doch recht wenig passiert. So prägnant Enterprise-Bühne und Ballon-Kostüme die Ästhetik prägen, so wenig entwickelt sich die szenische Fantasie des Abends. Leppers Stück wird zwar vor Sozialkitsch bewahrt, mag aber auch nicht so recht als bösartige Dystopie zünden. So steigt die größte Pointe des Abends nach dem Schlussapplaus: Mit ihren korpulenten Fettanzügen bleiben die Schauspieler beim Abgang zwischen Bühnenbild und Portal hängen, sind plötzlich auf der Gastspiel-Bühne gefangen. Irritiertes Verbeugen, Hin- und Herlaufen. Doch im entscheidenden Moment werden die Dicken nicht allein gelassen – die Technik fährt einfach den schwarzen Vorhang runter.

 

Seymour oder Ich bin nur aus Versehen hier
von Anne Lepper
Gastspiel Theater Bern
Regie: Dominic Friedel, Bühne: Olga Ventosa Quintana, Kostüme: Senta Amacker, Musik: Michael Frei, Dramaturgie: Sabrina Hofer.
Mit: Benedikt Greiner, Milva Stark, Mona Kloos, Stéphane Maeder, Pascal Goffin, Andri Schenardi.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.konzerttheaterbern.ch

 

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