Ein Schlachtfeld für die Nachgeborenen

von André Mumot

Heidelberg, 26. April 2015. Er heißt Micha. Aber so will er nicht mehr genannt werden, Micha ist ihm einfach zu deutsch. Also nennt er sich Roy Lustgarten. Er kommt, so geht es los an diesem Abend im Heidelberger Zwinger, frisch aus dem Knast, was natürlich gefeiert werden soll, mit Schnaps und Koks und möglichst vielen abgeschleppten Frauen. Sandro Tajouri macht diesen Micha-Roy zum donnernden Großereignis – stramm und grob und bäuchig. Unverschämt lässig ist dieser Typ, rettungslos wild und aggressiv, einer, der zuhaut und lacht, der wütend das Publikum beschimpft ("Ihr denkt, Ihr seid die besseren Menschen?"" und für den alles anders geworden ist, als ein besoffener Kumpel beim Schulausflug im KZ Dachau zu ihm gesagt hat: "So einen wie dich hätten sie früher auch kaltgemacht."

Solche Sätze treiben zuhauf nach oben in Dirk Lauckes Vergangenheits-Nicht-Bewältigungsstück "zu jung zu alt zu deutsch", das 2009 am Theater Osnabrück uraufgeführt wurde und jetzt am Wettbewerb für den Heidelberger NachSpielPreis teilnimmt, weil Regisseur Nick Hartnagel in Hannover eine atemlose Tour de Force auf schiefer Beton-Ebene daraus gemacht hat. Ein Abend, der Schnellfeuer-Dialoge abschießt, die allesamt um die Frage kreisen, wie sehr die angeblich so gründlich abgelegte NS-Vergangenheit eigentlich noch herumspukt in der Wirklichkeit der Nachgeborenen, die aus Fußballpatriotismus ihre Deutschlandfahnen aus dem Fenster hängen und nichts zu tun haben wollen mit dem, was ihre Großeltern im Krieg gemacht haben.

Tod in der Nacktputz-Show

Dabei treten fünf Figuren in eine fatale Wechselwirkung, in der nicht nur Sandro Tajourni eine sensationell nuancierte Spielenergie an den Tag legt, sondern gleich alle Darstellerinnen und Darsteller. Da verliert der spießige neue Lover (Philippe Goos) von Micha-Roys Ex-Freundin (Sina Martens) im unausweichlichen Handgemenge nicht nur mehrere Zähne, sondern auch noch jede Selbstkontrolle. Es bleibt ihm schließlich kein anderer Trumpf, als antisemitische Witze zum Besten zu geben, die alles sind, aber gewiss nicht lustig.

ZuJungzualtzudeutsch2 700 Isabel Machado Rios uWahrheit gegen Wahrheit: furioses Hannoveraner Ensemble, v.l.n.r. Sandro Tajouri, Susana Fernandes Genebra,
Philippe Goos, Sina Martens in "zu jung zu alt zu deutsch" © Isabel Machado Rios

Und dann ist da die ukrainische Jüdin Sascha (Karoline Horster), die illegal in Deutschland lebt und mit ihrer Arbeitskollegin Gitte (Susana Fernandes Genebra – noch so ein wunderbar giftiges Trauergeschöpf) für einen alten SS-Mann eine Nacktputz-Show hinlegt, der dabei jedoch unerwartet das Zeitliche segnet. Laucke verwebt diese Geschichten zu einem dichten und immer wieder verblüffenden Netz aus unterschiedlichen Strategien, mit den uneingestandenen Wahrheiten der eigenen Geschichte, mit den unterschwelligen Vorurteilen und selbstgerechten moralischen Überlegenheitsgefühlen umzugehen. Das Ergebnis ist so bitter wie komisch - sehr, sehr komisch sogar - schlägt aber nie den leichten Weg ein. Für verharmlosende Ironie und neckisches Augenzwinkern ist auf diesem Alltagsschlachtfeld kein Platz.

Hinreißender Gesinnungs- und Beziehungskampf

Stattdessen darf hier alles immer unlösbarer und komplexer und unerträglicher werden, der Schmerz und der Trotz, der Hass und die Sehnsucht, wobei das Hannoveraner Ensemble eine schwer beeindruckendes Vermeiden aller falschen Töne zeigt und sich ohne Rückhalt in einen hinreißend geistreichen Gesinnungs- und Beziehungskampf hineinsteigert. Während die Nachgeborenen einander in fiebrigen Parallelaktionen anschmachten und misstrauisch in Augenschein nehmen, auf einander einprügeln, sich beleidigen und einander von Demos und Fehlgeburten und ihrer Liebe erzählen, ist ihr ressentimentgeladener Furor immer konkret: Wahrheiten werden ausgesprochen, nur um frontal gegen andere Wahrheiten zu prallen.

Alles, was dabei an Unrat verstreut wurde, pustet Philippe Goos am Ende mit einem Laubbläser von der schiefen Bühne, räumt auf, schafft verbissen (und sehr deutsch) eine Ordnung, die das Stück selbst restlos getilgt hat. Nichts ist noch da, woran man sich halten könnte, keine simple moralische Empörung, kein Ausweg in Besserwisserei und Gutmenschentum und erst recht keine Vergangenheitsbewältigung. Nur fünf fabelhafte Menschentheater-Protagonisten sind übrig geblieben, abgekämpft und müde, und man wird sie nicht vergessen.

 

zu jung zu alt zu deutsch
von Dirk Laucke
Schauspiel Hannover
Regie: Nick Hartnagel, Bühne und Kostüm: Mareike Hantschel, Musikalische Leitung: Martin Engelbach; Dramaturgie: Johannes Kirsten.
Mit: Sandro Tajouri, Sina Martens, Philippe Goos, Susana Fernandes Genebra, Karolina Horster.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-hannover.de

 

 

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