Riten, Gewalt und Korruption

von Luz Emilia Aguilar Zinser

April 2015. Mexiko blickt auf eine mehr als fünf Jahrhunderte währende Theatertradition zurück. Theatralität prägte bereits die religiösen Bräuche der prähispanischen Kulturen. Bildliche Darstellungen und historische Texte belegen, dass in heidnischen Ritualen dialogische, satirische und burleske Elemente ebenso verwendet wurden wie Gesang und Tanz. Vielfältige farbenfrohe Verkleidungen und Masken, gerne in Tiergestalt, beherrschten die Szenerie. Bis heute lässt sich dieser Hang zum Theatralen in Riten der indigenen Völker beobachten, einem – um einen Begriff des Forschers Miguel León Portilla zu gebrauchen – "ewigen Theater", das mehrere Tage andauernde Zeremonien umfasst.

Die theatrale Tradition der indigenen Kulturen wurde auch von den Spaniern während der Conquista fortgesetzt. Nur ein Jahrzehnt nach dem Fall von Tenochtitlán – der 1521 von den europäischen Eroberern völlig zerstörten Hauptstadt des Aztekenreiches – übersetzten franziskanische Mönche Stücke aus dem Spanischen ins Nahuatl, die zum Ziel hatten, die Ureinwohner dem Katholizismus und der spanischen Lebensweise zu unterwerfen. Diese Stücke wurden unter der Beteiligung von Tausenden von Indianern zur Aufführung gebracht. Auch später noch initiierten die Jesuiten ein didaktisch orientiertes Gemeinschaftstheater. Der Prozess der kulturellen Verschmelzung, der den indigenen Völkern aufgezwungen wurde, zeigte sich in Stücken, die einer spanischen Dramaturgie folgten, sich dabei aber auch die traditionellen Mittel der Ureinwohner aneigneten. Mit dem Vordringen der Kolonialherrschaft wurden diese volkstümlichen Theaterformen allerdings verdrängt, das religiös geprägte Theater wurde verboten.

Identitätssuche

Im Vizekönigreich gab es in der Folge durchaus bemerkenswerte Dramatiker, etwa Juan Ruiz de Alarcón oder Sor Juana Inés de la Cruz, die zwar auf der Grundlage spanischer Theatertradition schrieben, dabei aber auch einige Spuren spezifisch mexikanischer Fragestellungen erkennen ließen. Das Theater dieser Zeit spiegelt den Kampf um eine Identitätssuche wider, die sich zwischen einer Eigenakzeptanz samt dem dazugehörigen Blick auf lokale Gegebenheiten und der Unterwerfung unter die Poetik der dominanten spanischen Kultur entfaltete.

Im 20. Jahrhundert wurde die Geschichte des Theaters in Mexiko dann von der Auseinandersetzung zwischen Autoren und Regisseuren um die Vorherrschaft im kreativen Prozess geprägt, aber auch vom Gegensatz zwischen Nationalismus und Universalismus, von der aufkommenden Ablehnung des "Starwesens" und von Debatten über Bedeutung des Theaters, über seine Beziehung zum Publikum und über Finanzierungsfragen. Um 1910 herum begann eine Epoche, in der Staats-Subventionen die Entwicklung einer Theater-Infrastruktur möglich machten, Ausbildungsstätten für Schauspiel wurden gegründet, ein kommerzieller Theaterbetrieb entwickelte sich.

Ein wichtiger Faktor für die Erneuerung der Ausdrucksformen im 20. Jahrhundert war die Ankunft ausländischer Regisseure, darunter Seky Sano aus Japan, der Meyerhold nahestand und bei der Einführung des Stanislawski-Systems in Mexiko eine wichtige Rolle spielte. Ebenfalls spürbar war der Einfluss von Fernando Wagner, einem Schüler Max Reinhardts, vom Griechen Dimitrio Sarrás, vom Österreicher Charles Rooner, vom Franzosen André Moreau, der mit Louis Jouvet arbeitete, von Antonin Artaud, dem Chilenen Alejadnro Jorodowsky und dem Uruguayer Atahuapla del Cioppo von der Gruppe "El Galpón". Natürlich hatten auch viele Gastspiel-Inszenierungen weiterer internationaler Theatermacher von Darío Fo bis Angélica Liddell sowie die von ihnen transportierten Ideen einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Hervorzuheben sind außerdem die Bemühungen um die Weiterentwicklung des "Teatro del cuerpo" (Körpertheater) sowie Experimente im Anschluss an das Brecht'sche Theater.

Multiple Einflüsse

Im Bereich der Dramatik folgte auf die spanischen Vorbilder zum einen der Einfluss George Bernard Shaws, repräsentiert von Rodolfo Usigli, dem als Autor und Lehrer der neuen Generation eine sehr wichtige Position zukam, sowie zum anderen derjenige des nordamerikanischen Realismus. Insgesamt machte der Realismus bis in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts den wohl am deutlichsten sichtbaren Trend im mexikanischen Theater aus. Einige der bekanntesten Regisseure suchten allerdings Ausdrucksmöglichkeiten fern dieses Realismus und rebellierten gegen die allgegenwärtige textnahe Auslegung und Umsetzung.

Charakteristisch für diese Richtung des mexikanischen Theaters des 20. Jahrhunderts waren die Kraft des Bildes und der unmittelbaren Erfahrung des szenischen Raums. Einer der wichtigsten Schlüsselfiguren dieses inszenatorischen Prozesses war der Bühnenbildner Alejandro Luna, der unter anderem mit Héctor Mendoza, Juan José Gurrola, Julio Castillo, Ludwik Margules sowie dem sehr jungen Regisseur Alberto Villarreal zusammenarbeitete. Luna kann als Bindeglied zwischen dem 20. und 21. Jahrhundert bezeichnet werden. Er hat über fünf Jahrzehnte kontinuierlich Ideen von Gordon Craig, Adolphe Appia und Joséf Svoboda umgesetzt und dabei immer stärker die immateriellen Elemente Raum, Licht, Zeit und Bewegung in den Vordergrund gestellt.

Unterstützung für Experimente

Heute wird das experimentelle Theater in Mexiko fast komplett durch staatliche Unterstützung finanziert. Es gibt unabhängige Spielstätten, die durch Stipendien und Förderprogramme überleben. Beispiele hierfür sind "La Capilla", die in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts gegründet wurde und sich der zeitgenössischen Dramatik verschrieben hat; "El Milagro", das auch Bücher verlegt; "Carretera 45" in der Colonia Obrera (ein Viertel in Mexiko-Stadt), wo sowohl ein inhaltlich sehr ambitioniertes Programm als auch Theater von Viertelbewohnern für Viertelbewohner produziert wird. Im Teatro de la Rendija in Mérida in Yucatán wiederum gibt es den sehr interessanten Ansatz, sich mittels interdisziplinärer und experimenteller Arbeit den in der Maya-Kultur verwurzelten Gemeinschaften anzunähern.

Aktuell sind die hauptsächlichen Produzenten des experimentellen Theater zum einen das "Instituto Nacional de Bellas Artes y Literatura (INBA)" (Nationales Institut für Darstellende Künste und Literatur), das in den 1940er Jahren gegründet wurde und das Inszenierungen als Koproduzent unterstützt – dem INBA untersteht die Compañía Nacional de Teatro. Zum anderen die Universidad Nacional Autónoma de México, die als Epizentrum der Erneuerung des Theaters im 20. Jahrhunderts gilt und sowohl verschiedene themenkritische Programme auflegt wie auch verschiedenen Strömungen und Generationen den Weg ebnet. Zudem gibt es die Lokaladministrationen, die indes einen eher unbeständigen Anteil an der Theaterproduktion haben. Über den Nationalen Kunst- und Kulturbeirat (Consejo Nacional Para Cultura y las Artes) und dessen Stiftung, den "Fondo Nacional para la Cultura y las Artes" werden unterschiedlichen Förderungsprogramme und Stipendien vergeben, die sowohl einzelne Produktionen als auch Theatergruppen unterstützen.

Erneuerung von innen

Die mexikanischen Theatermacher debattieren vor allem über die Grenzen der Sprache und versuchen, die Diskurse anders zu führen und zu erneuern. Angesichts der immer unsicherer werdenden Lage im Land hat man erkannt, dass sich die Ausbildungsprogramme zu sehr um die Einübung und Entwicklung der handwerklichen Fähigkeiten, aber zu wenig um die intellektuelle Bildung kümmern. Man ist nun bemüht, die inter- und multidisziplinären Erfahrungen sowie den erweiterten Theaterraum zu stärken, um den aktuellen Anforderungen gerecht zu werden. Die Stanislawski-Technik als state of the art der Schauspieler-Ausbildung steht in Frage. Es gibt die verbreitete Ansicht, dass das konventionelle Theater an konventionellen Orten erschöpft ist und dass Theater an anderen Orten stattfinden bzw. intervenieren sollte. Die Frage nach den Grenzen des Repräsentationstheaters wird ebenso gestellt wie die, wie man sich als Regisseur oder Autor vor politischer Vereinnahmung schützen kann. Es gibt eine deutliche Neigung, Protagonisten und Themen aus der Realität auf die Bühne zu holen. Man könnte sagen, dass sich in dem Maße, in dem sich die Gesellschaft theatralisiert und sich mit dem Gehabe der Politiker auseinandersetzt, ein Teil der Theatermacher versucht, die Inszenierungen zu "enttheatralisieren".

Mexiko ist historisch betrachtet schon immer ein von Ungleichheit bestimmtes Land: lange eine als Demokratie verkleidete Diktatur, ist es neuerdings eine unerbittliche Marktwirtschaft, mit einer regierenden Schicht und politischen Parteien, die an einem extremen Mangel an Glaubwürdigkeit leiden. 60 Prozent der Bevölkerung sind arm, dazu kommen soziale Spannungen und Gewalt in jeder Hinsicht. Der Paradigmenwechsel, der sich weg vom Umweltschutz und althergebrachten Territorialrechten und auf ein (politisches) Modell zu bewegt, das die Ausbeutung von Gas, Öl, Erzen, Drogen und Immobilien und Tourismuswirtschaft bevorzugt, Landflucht erzwingt, die Enteignung von städtischem und ländlichem Grundbesitz in Kauf nimmt und den "Krieg gegen den Drogenhandel" ausruft, hat vor allem dazu geführt, dass die Produktion und der Konsum von Rauschmitteln wie auch die Einfuhr von Waffen (darunter ein nicht unerheblicher Teil aus deutscher Provenienz) und eine Welle der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung überborden, an der Militärs, Paramilitärs und Polizei beteiligt sind.

Hunderttausende Opfer des Drogenkriegs

Es gibt keine offiziellen Opferzahlen in diesem Krieg, aber zivile Gruppen und Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass in den letzten 10 Jahren zwischen 180.000 und 280.000 Menschen spurlos verschwunden sind. Besonders gefährdet sind dabei junge Menschen und Journalisten. Zu alldem kommt, dass der offizielle Etat zur Förderung von Kunst und Kultur um 50 Prozent gesenkt werden soll. Aus all diesen Zusammenhängen generieren sich die Themen, die auf mexikanischen Bühnen derzeit dominieren: Perspektiven auf die Politikgeschichte des Landes, auf Gewaltexzesse, auf die Marktwirtschaft als Zerstörer sozialer Bezugssysteme, die Migration, die Kolonialisierung und die Dysfunktionalität von Familien und Paarbeziehungen. Und es gibt etliche neue Perspektiven auf das klassische spanische Theater und auf das von Shakespeare, Ibsen, Tschechow, Beckett und Brecht, mit mehr oder weniger mutigen und aussagekräftigen Lesarten, die diesen Texten neuen Sinn abgewinnen.

Unter den jüngeren Stimmen herrscht die Praxis des narrativen Theaters vor, des Dokumentartheaters und der Doku-Fiktion, zudem die Arbeit von Gruppen, in denen der Autor zugleich als Schauspieler und Regisseur fungiert. Die prononcierte Zurschaustellung der allgemeinmenschlichen Unsicherheit und Schwäche ist indes rückläufig. Am Ende von Aufführungen ist es heute durchaus nicht unüblich, dass Schauspieler die mangelnde Verfolgung von Verbrechen durch den Staat, die Gewalt und die allgegenwärtige Korruption anprangern. Auch an den – vornehmlich in der Hauptstadt – immer wieder stattfindenden Protestmärschen nehmen Theatermacher teil, um auch auf der Straße sichtbarbar zu sein.

Aus dem Spanischen übersetzt von Juliane Gaebler

Luz Emilia Aguilar Zinser ist Theaterkritikerin, Journalistin und Theaterwissenschaftlerin. Sie studierte Dramatische Literatur und Theater an der Universidad Nacional Autónoma de México. Sie schreibt für Zeitschriften wie El Cuento, El ciudadano, Siempre!, Correo Escénico, Escénica, Paso de Gato, das Irish Theatre Magazine, Theater der Zeit  und Nexos. Sie war künstlerische Co-Direktorin des Festivals Muestra Nacional de Teatro und Herausgeberin des Buchs "Voces de lo efímero, la puesta en escena en el teatro de la Universidad" (Stimmen des Vergänglichen, die Inszenierung im Teatro de la Universidad), 2007. Jeden Donnerstag veröffentlicht sie die Kolumne “Horizontes Imaginarios” (Imaginäre Horizonte)  in der Zeitung Excélsior.

 

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