Blutiger Sandsturm

von Matthias Weigel

Heidelberg, 2. Mai 2015. "Ich schaue nach Norden, aber der Norden schaut nicht zu mir." Dieser Satz ist universal – für all jene, die sich aus Honduras, Guatemala, Nicaragua, Venezuela, Brasilien und eben Mexiko auf den Weg machen, um in den USA ihr Glück zu suchen. Dementsprechend stellt sich der Hauptakteur im Stück "Amarillo" der erfolgreichen mexikanischen Theatergruppe "Teatro Línea de Sombra" universal vor: er ist kein Einzelschicksal, sondern eine Collage aus unzähligen Geschichten von glücklosen Glückssuchenden verschiedenen Alters.

Während viele Menschen in Europa das massenweise Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer nicht mehr hinnehmen wollen, sind die hochgesicherten Grenzanlagen zwischen den USA und Lateinamerika weitgehend akzeptiert. Doch sterben hier nicht weniger Menschen, ertrinken im Rio Bravo oder verdursten in der texanischen Wüste. Auch sie können nicht einfach als fremde "Wirtschaftsflüchtlinge" abgetan werden – hatte doch die US-Regierung zu oft ihre Finger im Spiel, wenn es um die Installation von korrupten Regimes in Zentral- und Südamerika ging.

Unerreichbares Amarillo

In einer dicken Schicht aus T-Shirts und Kapuzenshirt tanzt der Namenlose vor einer gigantischen Grenzbetonwand seine mühsame Choreographie: dreht Runden, springt an der Wand hoch, füllt Wasser in Kanister um. Seine Reise beginnt auf den Dächern eines Güterzugs, mit denen sich die Migranten in die Nähe der US-Grenze bringen lassen. Hier lauern die ersten Gefahren: Banden haben sich darauf spezialisiert, den illegal Reisenden die meist hohe Bargeldbeträge abzunehmen, die sie für die Schlepper mit sich führen.

Amarillo2 700 Ricardo RamirezWasserkanister-Installation: Gegens Verdursten in "Amarillo" © Ricardo Ramirez

In Live-Videoprojektionen, Sandbeutel- und Wasserkanister-Installationen, kurzen Choreographien und direkten Ansprachen ins Publikum fächert sich "Amarillo" (wie die texanische Stadt, die das Ziel ist) auf – und verrennt sich zum Teil darin. Im fast ununterbrochenen Oberton-Sound eines weißbärtigen Sängers wuseln die Performer über die Bühne, bedienen Videokameras, stellen Kanister-Muster und Sand-Figuren her. Nur manchmal entstehen aus der aufwändigen Kulissen- und Technik-Bedienerei eindrückliche Bilder: wie etwa ein Sandregen aus "blutenden" Plastikbeuteln gegen Ende.

Viele Schlaglichter

Bei so vielen unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Reisenden bleibt nur wenig Zeit für jeden einzelnen Aspekt: So erfährt man nur in Nebensätzen, dass sich im Süden Mexikos alleinerziehende Frauen zusammengeschlossen haben, deren Männer nach einiger Zeit aufgehört haben, Geld aus den USA zu schicken. Oder man kann aus einer eingespielten Interviewpassage einen Ausspruch aufschnappen, den man gerne weiter durchdacht hätte: Dass das Problem in Ländern wie Mexiko nicht sei, dass es dort im Prinzip nicht genug für alle gäbe – sondern dass die meisten nur keinen Zugang dazu haben.

Wie Körper und Menschenwürde beim illegalen Grenzübertritt versehrt werden, erzählt die Gruppe um Regisseur Jorge A. Vargas immer wieder in kurzen Schlaglichtern, oft symbolisiert in Bildern aus einer Kamera, die vom Bühnenhimmel senkrecht nach unten filmt. Die Fragmentierung nicht nur der Geschichte (in der das Ziel Amarillo/Texas nie erreicht wird), sondern auch der Ästhetik hinterlässt zwar keinen schlüssigen sinnlichen Eindruck. Doch die Schicksale der Migranten immer wieder zu thematisieren, ist unverzichtbar, solange sich die Zustände nicht geändert haben.

Amarillo
Von und mit Jesús Cuevas, Antígona González, Alicia Laguna, María Luna, Raúl Mendoza, Vianey Salinas. Regie: Jorge A. Vargas, Text: Gabriel Contreras unter Verwendung eines Gedichts von Harold Pinter,
Bühne und Licht: Jesús Hernández, Multimedia: Kay Pérez, Video: Marina España, Raúl Mendoza, Kay Pérez.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.teatrolineadesombra.org

 

 

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