Wir müssen vom Vater reden

von André Mumot

Heidelberg, 3. Mai 2015. Meistens ist das, was man sieht, einfach stärker. Stärker jedenfalls als die Worte. Und so entfaltet auch hier erst einmal das Augenzwinkern seine Wirkung, das Grinsen des männlichen Darstellers unter seinem Jahrmarktzylinder. Vor allem aber die lasziven Bewegungen der Frauen, ihre aufreizenden Blicke, ihr Kokettieren, ihr kurios übertriebenes Beinespreizen beim Gynäkologen. Es wird gelacht im Publikum, mal hier und da leise gegluckst, nach einer Tanzeinlage mit jeder Menge Lolita-Sexappeal sogar kurz applaudiert. Vielleicht sind es ja Übersprungshandlungen, Überforderungsgefühle, die wohl unausweichlich sind in einem Abend, der sich mit sexuellem Kindesmissbrauch befasst.

Demasiado cortas las piernas 700"Von den Beinen zu kurz" © Instituto Nacional de Bellas Artes

Der mexikanische Regisseur David Gaitán hat ein deutsches Erfolgsstück inszeniert, Katja Brunners 2013 in Zürich uraufgeführtes "Von den Beinen zu kurz", für das sie im selben Jahr in Mülheim den Dramatikerpreis gewinnen konnte. Gerade einmal eine Stunde dauert das Gastspiel, das sich nur auszugsweise aus dem Original bedient – doch diese 60 Minuten genügen vollkommen, um eine tiefe Beklommenheit hervorzurufen, die am Ende auch noch das letzte verlegene Lachen auslöscht.

Tödliche Verstörung

Es ist dabei keineswegs das erste Mal, dass das Thema im Mexiko-Schwerpunkt des Stückemarkts auftaucht. Auch im Wettbewerbsstück von Ángel Hernández, das später am Abend gleich zwei Preise einheimsen wird, kommt eine andeutungsweise inzestuöse Vater-Tochter-Geschichte vor, und in der "Voiceck"-Performance der Gruppe Laokoon ging es bereits zwei Tage zuvor um das eigentümlich obsessive Verhältnis, das Mexiko offenbar zu seinen Kindern pflegt – von denen so viele verschwinden und stumm zurückkehren.

Aber was soll man auch sagen, wie angemessen darüber sprechen? In Katja Brunners Stück jedenfalls lässt sich dem, was ausformuliert wird, nicht trauen. "Der Papa. Wir müssen vom Vater reden", heißt es da. Drei Darstellerinnen (Véronica Bravo, Myrna Moguel, Cecilia Ramirez Romo) schlüpfen in die Tochterrolle und erzählen von Liebe, verteidigen den Missbrauch mit Leidenschaft, klagen die Gesellschaft an, die ihn nicht versteht. Und führen dann doch den Zusammenbruch vor und die tief sitzende, am Ende tödliche Verstörung einer kaputten Seele. Rasend rasseln sie den Text herunter, holen panisch Luft, indem sie den Kopf gleichzeitig in den Nacken werfen, nur um schon im nächsten Augenblick wieder erotisiert über die Zwingerbühne zu tanzen – in einer knappen Kostümierung, die irgendwo zwischen Weltuntergangsfolklore und Reizwäsche rangiert.

Die Bilder täuschen

Gaitán übernimmt die verunsichernde Herausforderung von Katja Brunners Text, seine Wechselbad-Zumutung, und findet starke szenische Lösungen für unerträgliche Momente. So ziehen die Darstellerinnen eine lange Stoffbahn aus dem Kostüm ihres männlichen Mitspielers (Harif Ovalle), auf die dann, Satz für Satz, Detail für Detail, die Geschichte davon projiziert wird, wie die Mutter zu früh nach Hause kommt, den Missbrauch entdeckt und sich zum Schweigen entschließt. Dazu wird gesungen, Gitarre gespielt. Gefühle werden gezeigt, doch wieder ist es so: Die Bilder täuschen, die Wahrheit liegt unzugänglich darunter, dreht dem Publikum den Magen um.

Man hat viel gehört über die innere Zerrissenheit Mexikos an diesem letzten Tag des Stückemarktes, vor allem über die unentwegte Präsenz der sichtbaren und unsichtbaren Gewalt. Sehr angemessen erscheint es da, dass diese alptraumhafte Familienaufstellung mit einem stummen Schrei endet. Mit einem aus der Bühnenschwärze kurz herausgehobenen Tableau unsagbaren Schmerzes, in dem mehr mitschwingt, als man erfassen kann. Eine Beunruhigung, die umso tiefer greift, je klarer man sich an jeden einzelnen nervösen Lacher erinnert, den die trügerisch koketten Gesten des Anfangs provoziert haben. Noch einmal, kurz vor Schluss des Festivals, zeigt sich das Theater von einer seiner stärksten Seiten, als erbarmungslose Falle.

 

Demasiado cortas las piernas (Von den Beinen zu kurz)
von Katja Brunner
Ins Spanische übersetzt von Carla Imbrogno
Eine Koproduktion von Instituto Nacional de Bellas Artes, la Coordinatión Nacional de Teatro und dem Goethe-Institut Mexiko
Regie: David Gaitán, Bühne und Kostüme: Mario Marín del Río, Licht und technische Direktion: Sergio López Vigueiras, Video: Daniel Primo, Choreografie: Raúl Castillo, Dramaturgie: David Jiménez Sánchez.
Mit: Véronica Bravo, Myrna Moguel, Cecilia Ramirez Romo, Harif Ovalle.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

 

Kommentare  

#1 "Von den Beinen zu kurz", Mexiko: auch in Buenos Airesguillermo 2015-05-04 22:13
Noch vor Mexiko wurde das Stück übrigens in Buenos Aires (Argentinien) inszeniert (Premiere im November 2014). Die ausgezeichnete Übersetzung, die auch im Mexiko zum Einsatz kam, stammt von der Argentinierin Carla Imbrogno. Das Stück steht in Buenos Aires weiterhin auf dem Spielplan. Siehe: http://www.alternativateatral.com/obra33480-demasiado-cortas-las-piernas

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