Werft mich bitte auf den Müll

von André Mumot

Heidelberg, 2. Mai 2015. "Mein Vater war Drogenhändler, und ich liebe ihn. Ich hätte mir von ihm ein Kind machen lassen, damit es ist wie er." Nein, das ist keine angenehme Geschichte. Was sich hier in einzelnen Fetzen zusammensetzt, ist das Porträt einer Heldin, die es niemandem leicht macht, am allerwenigsten sich selbst. Es ist die 19-Jährige Marianne, die eines Tages ihren Vater vor ihrer Schule findet – in sechs Teile zerstückelt und in einem Sack. Getötet wurde er, weil er selbst Mörder für jene Drogenkartelle gewesen ist, die Teile Mexikos fest im Griff haben, die mit Staat und Polizei zusammenarbeiten und der Bevölkerung kaum noch Platz zum Atmen lassen.

Porträt eines Verbrecher-Vaters

So jedenfalls stellt man es sich vor, nach der Lesung von "Padre fragmentado dentro de una bolsa" ("Zerstückelter Vater im Plastiksack") des 1987 geborenen Ángel Hernández, der nicht nur schreibt, sondern auch Festivals und zahlreiche Theaterprojekte organisiert, in denen ganz bewusst die Orte bespielt werden, die öffentlich nicht mehr nutzbar sind, da schwere Gewalttaten dort stattgefunden haben. Und weil in diesen Szenen, engagiert und mit Wucht gelesen vom Heidelberger Ensemble, wirklich Ungeheuerliches sichtbar und nachfühlbar wird, kommen plötzlich auch die Nachfragen aus dem Publikum, das bis zu diesem Moment freundlich und geduldig, aber auch ohne größere Diskussionslust geblieben ist.

Stuema LesungTag3 250 Annemone Taake uÁngel Hernández, zweiter v. r., nach der
Lesung seines Stücks © Annemone Taake

Es ist aber nicht nur Verdienst des plastischen Themas, es ist auch Verdienst eines Stückes, das in bitteren, poetischen Umkreisungen beschreibt, wie die aggressiv und tränenlos trauernde Schülerin sich an den vergötterten Verbrecher-Vater erinnert, wie sie Inzest rekapituliert, sich mit ihrer Mutter streitet und mit ihrer Lehrerin. Wie sie von ihren Mitschülern als "schwanzlutschende Sau" angepöbelt und verprügelt wird und wie sie dann tatsächlich einem Jungen einen bläst, der das nur wegen des Geldes über sich ergehen lässt, mit dem er sich später Crack kaufen will. Selbst zur Irrläuferin und Gewalttäterin wird diese Marianne, zu einer, die alles zerfetzt, di€ selbst aussieht "wie ein leerer Sack, ohne Vater darin", dann aber das Zerstörte wieder zusammensetzt, ein zerrissenes Porträt des Vaters flickt und damit stellvertretend irgendwie auch ein zerfallenes Land.

Wenn Mexiko-Stadt bebt

Überhaupt darf man nicht zimperlich sein an diesem Tag des Internationalen Autorenwettbewerbs, denn die mexikanischen Autor*innen nehmen kein Blatt vor den Mund, lassen ihre Figuren raue, obszöne Töne anschlagen, ihre Wut und ihren Hass ungefiltert in den Alten Saal des Theaters und in die Welt hinaus schreien. Bei "Precisiones para entender aquella tarde" ("Erläuterungen zu den Vorfällen jenes Nachmittags") führt Autor Hugo Abraham Wirth (geboren 1981 in Mexiko City) gleich mehrere allwissende Erzähler ein, die die Figuren und Schauplätze seines Stückes unentwegt beschimpfen: Um "Scheißleute" in einer "Scheißstadt" geht es, die in einem Unternehmenshochhaus arbeiten, in dem sie "verkaufen, anbieten, Schulden eintreiben, belästigen, bedrängen, reden; alles telefonisch."

Ein Erdbeben sucht diesen neukapitalistischen Unort hein, gerade als eine besonders fleißige Inkasso-Mitarbeiterin ihre Prämien einzusacken versucht und eine ihrer Kolleginnen dem Personalchef, den alle nur "das Schwein" nennen, sexuell zu Diensten ist. Noch ein Blow Job, noch mehr Gewalt - am Ende fliegt sogar das ganze Gebäude in die Luft. Ein befremdlich herzloser Text ist das, eine grimmige Zynismus-Auskostung, die von großem Abscheu der eigenen Gesellschaft gegenüber zeugt, dabei aber, gerade wegen ihrer demonstrativen Drastik, dem Zuhörer den Zugang eher verwehrt.

Heilige Institution Familie

Insofern ist es geradezu ein Trost, dass man bei Conchi Leóns "Santificarás las Fiestas" ("Du sollst den Feiertag ehren") zwischendurch in die vertrauteren Gefilde der klassischen Familienstreit-Komödie eintauchen darf. Doch auch hier ist der Tonfall, nun, sagen wir es vorsichtig, eher ruppig: "Du hast ganz rote Augen. Hast du geweint?" "Nein." "Was hast du gemacht?" "Ich habe gekotzt."

Stuema Lesung3 250 Annemone Taake uConchi León auf dem Podium in Heidelberg
© Annemone Taake

Es ist Sylvesterabend, und zum Essen findet sich effektvoll konfliktbereites Personal ein: Eine wunderliche Tante, eine magersüchtige und eine schwer übergewichtige Schwester, letztere mit einem auf der Straße aufgelesenen Fremden, den sie als ihren Freund ausgibt, da der eigentlich bestellte Callboy nicht erschienen ist. Ach ja, und der Geist der toten Mutter schaut auch noch kurz vorbei, geht aufs Klo und vergisst, wie immer, zu spülen.

Ein bisschen mexikanischer Totenkult zeigt sich und ein Hauch von magischem Realismus blitzt hervor, während die heilige Institution Familie genüsslich ans Messer geliefert wird. Conchi León schöpf jedoch nicht aus dem Moloch von Mexiko Stadt. Die 1972 in Yucatán geborene Autorin schreibt Stücke über die Identität- und Alltagsprobleme der Maya – barsch und wild, aber dann doch auch mit sehr viel Wärme und ohne die entfesselte Gewalt des Nordens zum Thema zu machen.

Kurzes Happy End

Auch das Familienessen, man kann es sich denken, artet ins Katastrophische aus. Am Ende der eher leichtgewichtigen und auch recht kurzen Komödie aber hat sich immerhin ein Liebespaar gefunden. Das Feuerwerk ist laut und dröhnend über den Himmel gezogen, alle haben sich ausgekotzt und es darf sogar ein bisschen romantisch werden. Ein Happy End, das erleichtert aufseufzen, kurz entspannen lässt, bevor einem wieder der Schlusssatz jener Marianne in den Sinn kommt, mit dem die drei Wettbewerbslesungen enden: "Ich gehe ins Gefängnis", sagt sie, "ich habe meinen Vater getötet, in Stücke geschnitten. Wenn diese Scheiße vorbei ist ... könnt ihr mich dann zu ihm auf den Müll werfen?"

Precisiones para entender aquella tarde ("Erläuterungen zu den Vorfällen jenes Nachmittags")
Von Hugo Abraham Wirth, deutsch von Margit Schmohl
Einrichtung: Lene Grösch
Gelesen von: Nicole Averkamp, Christina Dom, Hendrik Richter.

Santificarás las Freitas ("Du sollst den Feiertag heiligen"
Von Conchi León, deutsch von Stefanie Gerhold
Einrichtung: Jürgen Popig
Gelesen von: Julia Apfelthaler, Christina Dom, Lisa Förster, Steffen Gangloff.

Padre fragmentado dentro de una bolsa ("Zerstückelter Vater im Plastiksack")
Von Ángel Hernández, deutsch von Franziska Muche
Einrichtung: Jessica Weißkirchen
Gelesen von: Nicole Averkamp, Josepha Grünberg, Elena Nyffeler, Fabian Ohel, Christina Rubruck, Andreas Seifert, Olaf Weißenberg, Martin Wißner

 

Zum Essay über die mexikanische Theaterlandschaft

 

 

Kommentar schreiben

Sicherheitscode
Aktualisieren