Das radikal Konkrete

von André Mumot

4. Mai 2015. "Es tut sehr weh, über den Schmerz zu sprechen", sagt Ángel Hernández, als er den ersten der beiden Preise entgegennimmt, die ihm an diesem Abend zugesprochen werden. "Aber es tut noch viel mehr weh, wenn man sich nicht dazu äußert und alles verschweigt." Es ist das Bekenntnis eines politischen Theatermachers und Autors, der bei diesem Stückemarkt unmöglich hätte übergangen werden können. Sein Padre fragmentado dentro de una bolsa, der "Zerstückelte Vater im Plastiksack", ist völlig erwartungsgemäß von der Jury mit dem vom Land Baden-Württemberg gestifteten Internationalen Autorenpreis (dotiert mit 5.000 Euro) bedacht worden. Hinzu kommt noch die Anerkennung der Lesungszuhörer und somit der Publikumspreis (noch einmal 2.500 Euro, gestiftet durch den Freundeskreis des Heidelberger Theaters), was eine umso deutlichere Sprache spricht.

Erschöpfte sich Precisiones para entender aquella tarde von Hugo Wirth in allzu offensiven Zynismen und Conchi Leóns Santificarás las Fiestas in seiner komödiantischen Leichtigkeit, ist das Stück von Hernández ein mehr als würdiger Abräumer. Weil es nicht nur tief hineinsteigt in den Schmerz und die harten sozialen Realitäten Mexikos, sondern auch noch handwerklich raffiniert gestaltet ist, da auch im Text zusammengesetzt werden muss, was gewaltsam auseinandergerissen wurde. Die Selbstfindung einer jungen Frau, deren Verbrecher-Vater von der Drogenmafia umgebracht wird, gerät hier nicht zur eindimensionalen oder gar sentimentalen Opferstilisierung, sondern zur aggressiven Herausforderung.

Finale Stuema3 700 AnnemoneTaake uBei der Preisverleihung v.r.n.l.: Mexiko-Scout Ilona Goyeneche, Jurorin Gesine Schmidt, Ángel Hernández, Intendant Holger Schultze 
© Annemone Taake

 

Damit ist das Stück auch Teil eines Theaters, das keine wohlfeilen politischen Appelle formuliert oder nach griffigen sozialen Utopien Ausschau hält, sondern zur emotionalen Verbindung dient. Dramatik, die illusionslos und hart Empfindungen artikuliert und Gemeinschaft schafft – und deren Aufführung die Macher in Lebensgefahr bringt, wenn sie sich zu explizit mit dem organisierten Verbrechen anlegen. Deshalb widmet Ángel Hernández den Preis nicht nur den Opfern der Gewalt, sondern auch "allen Künstlern, die versuchen, in der aktuellen Situation (mit ihrer Kunst) zu kämpfen und sich damit selber in Gefahr bringen".

Moralische Grundsatzfragen

Demütig macht eine solche Theaterrealität von deutscher Perspektive aus, und so erleichtert es, dass auch die Jugendjury eine mutige Entscheidung getroffen und ein überaus schwieriges Stück ausgezeichnet hat. Nicht die sensible, kleine Liebesgeschichte 100 m von Ralf N. Höhfeld gewinnt die von der Volksbank Kurpfalz H & G Bank gestifteten 6.000 Euro und wird im Rahmen der Mühlheimer Theatertage 2016 gezeigt. Und auch nicht die Edelweißpiraten von Christoph Haninger. Zwar ist die Produktion vom COMEDIA Theater Köln durchweg sympathisch in ihrer Rekapitulation einer Jugendbande, die im Dritten Reich in den Widerstand schlittert, zeigt aber auch einen immer wieder irritierend unbedarften Umgang mit der historischen Dimension und wird zum abenteuerlichen, allzu leicht verdaulichen Aufarbeiten nicht zuletzt von Folter- und KZ-Erfahrungen.

Ganz anders der Gewinner des JugendStückePreises: Der Weltenbrand von Tobias Ginsburg und Daphne Eber ist hoch konzentriertes Dokumentartheater, das die Entwicklung des Giftgases vom Ersten Weltkrieg bis heute nachvollzieht: Eine Geschichtsstunde, die 100 Minuten dauert, die anstrengt und in fein komponierten Spielszenen eine hohe diskursive Brisanz entwickelt. Das Nicht-Lockerlassen in der Umkreisung moralischer Grundsatzfragen verlangt dem Publikum einiges ab, nicht zuletzt, weil auch diese Aufführung überraschend wütend und beklommen und hilflos macht und alle einfachen Lösungen verweigert.

Beim Namen nennen

Politisch wollte der Stückemarkt sein in diesem Jahr sein, und zumindest diese Preisvergaben dokumentieren den Erfolg. Zum Widerspruch regt dann eigentlich auch nur die Entscheidung der Alleinjurorin Barbara Behrendt an, den NachSpielPreis (verbunden mit einer Einladung zu den Autorentheatertagen am Deutschen Theater Berlin) an die neckische Jan-Philip-Gloger-Inszenierung von Schatten (Eurydike sagt) zu vergeben. Gewiss kein schlechter Abend, einer, der mit Witz und Verstand aus Elfriede Jelineks massiver Textfläche eine bunt groteske Beinahe-Erzählung macht. Großartig gespielt ist das Ergebnis vor allem, aber doch auch ein intellektueller Eiertanz, ein fast schon akademisches Text- und Thesenausforschen, ein Greifbarmachen von verbitterter Weltabkehr. Dominic Friedels allzu weiche, allzu eindeutige Berner Version von Anne Leppers Seymour oder Ich bin nur aus Versehen hier hätte da gewiss keine sinnvolle Alternative geboten.

Nicks Hartnagels Inszenierung von Dirk Lauckes zu jung zu alt zu deutsch dafür aber um so mehr. Hier ist er eigentlich gewesen, überdeutlich sogar, der Idealfall einer Aufführung, die ein Stück deutschsprachiges Gegenwartstheater auf bravouröse Weise beim Wort nimmt, seine ganze Schärfe, seine explosive Komplexität und zugleich eine absolut greifbare gesellschaftliche Relevanz ausleuchtet – mit szenischer Fantasie, aber ohne allzu viele Faxen. Diese Inszenierung ist so witzig wie erschütternd, nicht ironisch verstiegen, sondern geradezu unheimlich konkret, ein aufregendes Hervorziehen von Vorurteilen und Gesinnungsgespenstern, von Überforderung und Trotz im Umgang mit deutscher Geschichte. Nicht nur Kopfgeburt, nicht bloß Spiel mit Posen, Worten, großen Gesten. Denn das ist es wohl, was die Mexikaner vor allem mit nach Heidelberg gebracht haben: Die Erkenntnis, dass politisches Theater poetisch und radikal konkret zugleich sein und manchmal die Dinge schlicht beim Namen nennen muss, um sein Publikum voranzubringen.

 

Mehr über den Autorenpreis, den Lukas Linder erhielt, in einem Resümee von Wolfgang Behrens.
 

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