Stadt ohne Konsum

von Sophie Diesselhorst

April 2015. Wir befinden uns in einer Stadt. So, wie in der Bahnhofsmission geredet wird, ist es Berlin. Tom, Alf, Michaela, Janne, Penner, Bruder, Schwester, Dritter, Ehemann, das sind die dramatis personae in Stefan Wipplingers Stück "Hose Fahrrad Frau". Sieben "echte Menschen", die sich sowohl in Innen- als auch in Außenräumen begegnen – wobei die eigentlich produktiven Dialoge nicht zufällig stets im öffentlichen Raum stattfinden. Stefan Wipplinger verwebt mehrere Handlungsfäden miteinander, lässt sie sich aufribbeln und zu neuen Fäden verfilzen.

In der Ausgangssituation sind Alf und Michaela ein junges Paar mit Kinderwunsch und Altes-Ehepaar-Problemen; Tom und Janne sind zwei Prekariats-Exempel mit Bindungsschwierigkeiten-Gütesiegel. Der Bruder kommt zusammen mit dem Dritten nach jahrelanger Suche von weither in die Stadt, um seine Schwester von dem Mann zu befreien, der sie einst der Familie in irgendeinem Entwicklungsland abgekauft hat. Der Penner ist ein solcher aus freier Entscheidung – er hat alle seine Besitztümer weggegeben und erfindet sich nun als Sokrates der Großstadt am kapitalistischen Abgrund neu, indem er Menschen anquatscht, aber nicht um Geld, sondern um sie auf ungewohnte Gedanken zu bringen.

Sprachlicher Realismus

Gleich in der ersten Szene schafft er es, Tom zu irritieren, indem er ihn in ein Gespräch über ihr zufälliges Zusammentreffen verwickelt, das er selbst in Toms Rolle schon einmal genauso erlebt haben will. Er entdeckt in Tom also sein eigenes vergangenes Selbst und hält Tom zugleich seine mögliche Zukunft vor Augen: Auch aus dir könnte ein Penner werden. Das Motiv des Déjà-vu, das Wipplinger in dieser Szene kunstvoll umkehrt, liegt einerseits – formal – noch einigen anderen Szenen zugrunde, die auf einen Wiedererkennungswert hin geschrieben sind, also wirken, als spielten sie sich nicht zum ersten Mal ab. Andererseits nimmt das Déjà-vu-Motiv, so wie es gleich zu Anfang eingeführt wird, das inhaltliche Motiv des Stücks, nämlich den Tausch, vorweg: In einer Tauschwirtschaft ist die Wiederbegegnungs-Wahrscheinlichkeit höher als in einer Wegwerfwirtschaft.

Sprachlich ist der Österreicher und Wahl-Berliner Stefan Wipplinger (Jahrgang 1986) – der sich in seiner (erfolgreichen) Bewerbung um einen "Szenisches Schreiben"-Studienplatz an der Universität der Künste (UdK) beschrieb als "ein Mensch der auf allen Festen tanzt, der es trotzdem tut, obwohl er weiß dass es nicht geht" – Realist und rafft nur zum Ende eines knackigen Tempos die üblichen "ähs" und sonstige Redundanzen weg. Auch szenisch wirkt "Hose Fahrrad Frau" auf die erste Lektüre realistisch – es gibt zum Beispiel pointierten Pärchenrealismus zwischen Alf und Michaela:

Alf: Weißt du wo diese eine -?
Michaela: Nein.
Alf: Diese eine weiße Socke ist?

Oder Prekariatsrealismus made by Tom und Janne:

Janne: Was verdienst du im Monat?
Tom: Unterschiedlich. Sind eher Projekte.
Janne: Oh Projekte?
Tom: Ja.
Janne: Welche.
Tom: Alles Mögliche. Fotographie. Video. Grafik. Events. Catering.
Janne: Hochzeitsphotograph, was?
Tom: Naja. Nicht nur.
Janne: Nö klar.
Tom: Ist halt ein Geldjob. Eigentlich bin ich Grafiker.

Tauschhandel mit Wohnungen und Herzen

Aber dieser Realismus ist nur gute Tarnung: Unrealistisch ist zum Beispiel die Abwesenheit von Sprachbarrieren, am offensichtlichsten zwischen dem Bruder und dem Dritten, die aus einem fernen Land kommen, und den anderen Einwohnern der Stadt. Der zentrale Bruch mit der realistischen Form besteht aber darin, dass es in dieser Heutigkeit behauptenden Stadt keinen Konsum gibt – oder nur scheiternden.

Stattdessen wird meistens getauscht: Janne und Tom tauschen erst Wohnungen und dann Herzen. Ein gelungener Tausch, auch wenn seine ursprüngliche Motivation individuelle Langeweile war. In der Bahnhofsmission wird dem Tauschen gnädig nachgeholfen: Der Penner will ein Buch gegen eine Hose tauschen; der Bahnhofsmissionar gibt ihm die Hose und das Buch gleich an den Dritten weiter, der einen Schlafplatz braucht. Also gibt der Bahnhofsmissionar ihm auch noch zwei Essensmarken. Eine der Essensmarken und sein Interesse an dem Buch tauscht der Dritte später bei dem Penner gegen einen Schlafplatz.

Es gibt auch scheiternde Tauschgeschäfte – an der Hostelrezeption bleibt Tom hart, als der Dritte, der kein Geld hat, einen Schlafplatz tauschen will gegen seine Arbeitskraft. Also rekurriert der Dritte auf "die zweite Möglichkeit. Du prägst dir ganz genau ein wie diese Klinge hier aussieht. Und sagst deshalb zu allem was ich von dir will nur noch. Ja in Ordnung." Der freiwillige Tauschhandel, den Tom mit dem Argument nicht eingegangen ist, dass er nicht weiß, was sein Chef dazu sagen würde, wäre eindeutig die bessere Möglichkeit gewesen.

Der Händler als Verlierer

So wie diese greift auch die Szene, in der der Penner in dem Café, in dem Janne arbeitet, ein Essen bestellt, ohne bezahlen zu können, nicht eine einzelne Figur an, sondern das (kapitalistisch geprägte) System. Der Penner handelt nicht aus Not, sondern weil er Janne auf ihre prekäre Arbeitssituation hinweisen, sie eigentlich zum Protest dagegen aufrufen will. Und Janne erkennt es an: "Ich bin eine Zwischenhändlerin ohne jede Sicherheit." Dagegen halten kann sie nur ihr "loses Mundwerk und zwei kräftige Fäuste". Also auf die Dauer nicht genug.

Auf den Punkt bringt Stefan Wipplinger seine Kapitalismuskritik in der Szene, in der der "Ehemann" der Wahrheit, also dem inquisitorischen Penner, ins Auge schauen muss. Der Ehemann, der in seinem Beruf als "Händler der alles kauft" dermaßen erfolgreich gewesen ist, dass er auf diesem Weg sogar eine Frau und Kinder ergattert hat, steht am Ende als Verlierer da: Der "Bruder" hat Frau und Kinder aus seinem Besitz befreit; es bleibt ihm nur die Kneipe, ein Verzweiflungswhisky nach dem anderen und die ihn und uns als Opfer kapitalistischer Hybris entlarvende Erkenntnis: "Ich bin schuld". Dass Wipplinger ihm noch einen so realistischen wie mitleiderregenden irrationalen Ausbruch gönnt, nachdem der Penner seinem Schuldbekenntnis beigepflichtet hat, nimmt das "ist" aus "moralistisch".

So wie auch der Epilog: Da führt Alf, der Ding-Fetischist, der nichts wegschmeißen kann, die Tauschidee in einem Monolog ad absurdum: Er verliebt sich in ein Fahrrad und will es gegen seine Freundin tauschen. Trotzdem hat Stefan Wipplinger ihm und uns, seinen Lesern – seinen Zuschauern ist eine nicht plakative Regie zu wünschen – zusammen mit seinem "Penner" eine Utopie untergejubelt; die, wie Alfs Epilog uns allen zugesteht, hier und jetzt eine Überforderung bedeutet. Was (nicht das einzige ist, das) für sie spricht.

 

 Lesung von "Hose Fahrrad Frau" am ersten Tag des Autorenwettbewerbs, Samstag 25. April, um 13 Uhr, im Alten Saal.

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