Vergebliches Entsorgen

von Elena Philipp

April 2015. "Braun weiß grün." – "Braun ist klein, weiss ist mittel, grün ist gross": Lina ordnet Flaschen. Zahllose Flaschen, leergetrunken von ihrer Mutter. Braun für Bier, weiß für Wodka, grün für Wein. "Montag braun, Dienstag weiss, Mittwoch grün..." Ein nie abebbendes Flaschenmeer, von Lina zwanghaft in eine Ordnung gebracht, die von der betrunkenen Mutter ebenso zwangsläufig wieder zunichte gemacht wird. Eine Sisyphos-Aufgabe ist das vergebliche Sortieren und, wie das mythische Felsrollen, eine Sühnehandlung: Die Mutter gibt Lina die Schuld daran, dass der Vater die Familie verlassen hat. "Du hast sie durcheinandergebracht. Seine Modellflieger. Darum ist er weg. Du hast die Ordnung zerstört. Das System. Deswegen."

Abhängigkeits-System

Eine in symbiotischer Co-Abhängigkeit verharrende, dysfunktionale Mutter-Tochter-Dyade entwirft Rebecca C. Schnyder in ihrem fünften Theatertext "Alles trennt". Renata, 48, ist seit Jahren nicht aus dem Haus gegangen, Lina, 24, hat die Familienpflichten übernommen. Sie arbeitet in der Fleischfabrik am Fließband. Kauft, sortiert, entsorgt die Flaschen. Zu früh erwachsen geworden, verharrt sie emotional auf dem Stand eines Kindes. Ringt, von Angst gelähmt, innerlich mit der überwältigenden Präsenz der Mutter, die sie von jeglichem Sozialkontakt fernzuhalten sucht. Schützt ihre imaginäre Freundin Klara. Übt mit sich selbst glückliche Dialoge, die sie dem Werbefernsehen entlehnt statt realer Erfahrung:

"Wie war dein Tag? / Anstrengend. Und deiner? / Ich hab dich vermisst. / (Pause) / Anstrengend. Und deiner? / Du hast mir gefehlt. / Besser. / Jemand wartet auf dich. / Es riecht wunderbar. / Auflauf. Mit Knorr schmeckt alles besser. / Wie war dein Tag? / Anstrengend. Und deiner? / Du hast mir gefehlt. / Du mir auch."

Mühsam sucht Lina in den Wiederholungen nach eigenen Wendungen, nach einem Ich-Bewusstsein im Entfremdeten. Werbung für Kaffee, Kekse und Kosmetik – Schnipsel einer heilen Welt, die Lina nicht aus eigener Anschauung kennt. Bis der Briefbote Leo vor der Tür steht: der erste Ansprechpartner für Lina, der durch das von ihrer Mutter errichtete Abwehrsystem dringt. Ein Sendbote mit Brief: ironisches Spiel mit Dramenversatzstücken. Kann Leo Lina retten?

Griff zur Flasche

Genau konstruiert Rebecca C. Schnyder das zerstörerische Spiel um Schuld und Sühne, das in überspitzt-milieuhafter Drastik endet: Die Mutter zerlacht die Lebenspläne ihrer mit Hilfe Leos selbstbewusst gewordenen Tochter. Und Lina greift zur Flasche... Fast erwartbar wirkt dieser Schluss: Für Lina gibt es kein werbetaugliches Happy End, zu tief ist die Verstrickung ins gestörte Familiensystem, wie einst das Schicksal der Atriden. Schnyder schwächt diesen möglichen tragödischen Subtext durch die klare Milieuverortung ab, und so fehlt ihrem Sozialdrama gelegentlich die glaubwürdige Motivierung: Warum würde der bei Gericht jobbende Student Leo zur ungelernten Arbeiterin Lina zurückkehren, um sie als anteilnehmender Sozialarbeiter aus der Duldungsstarre zu führen? Ist's eine an der Wohnungstür beginnende zaghafte Liebe, über soziale Gräben hinweg?

Lina zumindest träumt von "Lina und Leo", einer vielleicht funktionierenden Zweisamkeit. Leo lässt sich, verwirrt von Linas vorgefertigten Dialogangeboten, in die er sich einfügen soll, immerhin zu einer Art Freundschaft bewegen. Aber weniger eine lebenspralle Figur, ist er eine dialogisch verkörperte dramatische Funktion: der notwendige dritte Mann, der die wahnhafte Zweisamkeit von Mutter und Tochter aufbricht.

"Themen, die nah am Menschen dran sind", bevorzugt die 1986 geborene Schweizer Autorin, wie sie über die Dreierkonstellation in "Alles trennt" sagt. Mit einem konzentrierten Theatertext über drei verwaiste Geschwister, "Schiffbruch", war Schnyder 2011 zum Dramatikerworkshop des Theatertreffens eingeladen. Wie "Alles trennt" war auch dieser Text inspiriert von einer Jeff Wall-Fotografie, erzählt sie: "Ich kann da gleich etwas draus ziehen, ich habe Stimmen im Ohr und höre Dialoge." Für sie die Motivation, fürs Theater zu schreiben – "da ist ein Drama das erste Medium." Schnyder hat am Stadttheater Bern als Regieassistentin gearbeitet und kennt den Betrieb.

Hallraum in der Sprache

Ihre Texte lässt sie, so möglich, von befreundeten Schauspielern lesen: "Ich tendiere zum Übererklären, daher gebe ich die Texte sehr bald raus, um die Dialoge zu überprüfen." Hoch verdichtet sind die Texte, die derart entstehen. Präzise Spracharbeit, vor allem ein kunstvolles Spiel mit Wiederholung und Variation, und ein ausgeprägter sozial-politischer Hallraum zeichnen ihre bisherigen Theatertexte aus.

In der konzisen, reduzierten Miniatur "Still.Flucht" schrieb Schnyder für den Kurzdramenwettbewerb SALZ! am Theater Lüneburg über zwei Geflüchtete: "Hier ist nix. Nicht für uns", sagt der sprungbereit auf dem Balkon eines Asylbewerberheims stehende Malik zu Abadi. "Aber danach ... Kein Nein, du nicht." – In Lüneburg gewann "Still.Flucht" den Jurypreis. "Dicke Schmetterlinge", ein Theatertext zum Thema Magersucht, liegt noch in der Schublade. Am Theater kommt Schnyders Arbeit derzeit an, fast fünf Jahre, nachdem sie als freie Autorin gestartet ist. Ihr erstes Stück, "Über dem Tal", wurde noch als Hörspiel umgesetzt, "Schiffbruch" hat vergangenes Jahr eine freie Truppe inszeniert, Schnyder produzierte mit. Derzeit arbeitet sie an einem Stückauftrag für das Theater St. Gallen, im November ist die Uraufführung. Ein zweiter Auftrag ist erteilt, aber noch nicht offiziell. "Alles trennt" gilt also nur für Lina: Für Rebecca C. Schnyder fügt sich alles.

 

Lesung von "Alles trennt" am zweiten Tag des Autorenwettbewerbs, 26. April 2015, 14 Uhr, im Alten Saal

 

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