Wer sind die Anwälte des Textes?

von Wolfgang Behrens

April 2015. Neulich im Jugendtheater: Beim Inszenierungsgespräch nach einer Vorstellung von Igor Bauersimas "norway.today" mit der freien Gruppe "Macht ohne Bühne" um den Regisseur Johannes Gruhl rücken die Schüler*innen eines Deutsch-Kurses nur sehr zögerlich mit ihrer Meinung heraus. Wenn sie es aber tun, dann arbeiten sie mit einer grundsätzlichen Unterscheidung: "im Buch ist es so" und "im Stück war es so".

Der aus privatem Interesse anwesende, in terminologischen Fragen natürlich äußerst bewanderte Kritiker wundert sich zuerst, bis er versteht: Ja, klar, die Schüler*innen meinen "Aufführung", wenn sie "Stück" sagen, und sie meinen "Stück", wenn sie "Buch" sagen. Der Kritiker lächelt gönnerhaft in sich hinein, zumal die Schüler*innen natürlich in die alte Falle tappen: Sie wissen genau, was im "Buch" steht, wissen, was da gemeint ist, sie wissen es sogar so genau, als seien sie selbst der Autor. Und im "Stück", also in der Aufführung sehen sie dann willkürliche Abweichungen, die der Regisseur dem Text einfach übergebraten hat.

Material im Gesamtkunstwerk

Der Kritiker ist über einen solchen platten Dualismus längst hinaus, denkt er. Schließlich hat die Theaterwissenschaft – und mit ihr die Theaterkritik – in den letzten Jahren aufgedeckt, dass der zu untersuchende Gegenstand nicht der Text ist (Theater- sind ja keine Literaturwissenschaftler, Theater- keine Literaturkritiker), sondern die Aufführung. Und da ist der Text nur ein Aspekt unter vielen. Eine gelungene Aufführung ist nicht eine, in der der Text einfach so interpretiert wird, wie er im Buche steht, sondern sie entsteht aus dem Zusammenspiel ganz verschiedener Elemente: neben Text auch noch Raum, Bild, Musik, Geste etc.

Es ist dies auch der Grund, warum sich der Kritiker und mit ihm die meisten seiner Kolleg*innen so empört haben, als die Brecht-Erben gegen Frank Castorfs "Baal"-Inszenierung am Residenztheater München vorgegangen sind. Ja, wie blöd sind die Brecht-Erben denn, dass sie den Text so wichtig nehmen? Er bildet doch nur eine Ebene einer Aufführung, er ist Material im Gesamtkunstwerk Theater, und was macht es da, wenn ein paar Fremdtexte mit hineingemischt werden? Die Brecht-Erben und das Urheberrecht hinken dem Kunstgegenstand einer Theateraufführung mindestens um einige Lichtjahre hinterher. Sie setzen den Text über die anderen Bestandteile einer Inszenierung, als käme ihm auf irgendeine Weise ein Primat zu.

Distinktion, den Text zu kennen

Und doch ist es Realität, dass auch die Kritiker*innen den Dualismus weiter befeuern. Es ist zum Beispiel üblich, dass ein Kritiker, wenn er eine Uraufführung bespricht (oder auch die Aufführung eines älteren Dramas), den Text des Stückes vorher liest. Warum tut er das? Er hebt sich damit von der Position der Normalzuschauer*innen ab, die in der Regel die Texte nicht kennen und so am Ende eines Abends in der Tat eine Aufführung als Ganzes beurteilen (oft genug übrigens mit der uns bereits von den Schüler*innen her bekannten Formulierung: "Das Stück hat mir gefallen!"). Der Kritiker hingegen ist schlauer, er ist ja als Experte geladen, er kennt das Stück bereits und weiß also, was die jeweiligen Regisseur*innen in der konkreten Aufführung mit dem Text anstellen. Oft genug schreibt er das dann auch hin: "Die Inszenierung wurde dem Text nicht gerecht", heißt es dann etwa, oder: "Die eigentliche Uraufführung des Stückes steht noch aus."

Dieselben Kritiker*innen, die für Castorf und die Freiheit der Kunst und der Regisseur*innen auf die Barrikaden gehen, bedienen sich in ihren Rezensionen immer wieder ganz selbstverständlich der alten Dichotomie: Text – Inszenierung. Sie betonieren so das Bild eines Theaters, das vor allem Texten gerecht zu werden wünscht. Sie machen genau das, was die Schüler*innen im Inszenierungsgespräch zu "norway.today" gemacht haben.

Gibt es einen Ausweg? Wäre es besser, wenn die Kritiker*innen die Texte vorher nicht mehr lesen würden (so wie sie sich ja auch nicht vorher die Musik der Inszenierung anhören oder die Bühnenbild-Entwürfe studieren) und so die Position des nicht vorbelasteten Zuschauers einnähmen? Es wäre vielleicht einen Versuch wert. Doch wer als die Kritiker*innen (Brecht-Erben ausgenommen) könnte sich dann zum Anwalt der Texte machen? Braucht es solche Anwälte überhaupt?

Jenseits von Patentrezepten

Das theaterwissenschaftliche Modell, das die Aufführung als den eigentlichen Kunstgegenstand sieht, der seine Stimmigkeit in sich beweisen muss, mag seine Gültigkeit haben. So einfach ist das Primat des Textes dann aber wohl doch nicht zu verabschieden, zumindest in einigen nach wie vor sehr präsenten Formen des Theaters. Denn das, was in den Texten fürs Theater niedergelegt wurde, ist zwar offen für verschiedene Verwendungen, es fordert freilich auch eine eigene Stimmigkeit und Logik ein. Wenn diese Logik missachtet wird, kann das interessante Ergebnisse zeitigen – es bedeutet aber auch, dass ein Text gegen seine eigenen Vorgaben missbraucht wird. In Zeiten, in denen die Autorschaft geschützt wird – keine geringe Errungenschaft! –, ist es daher durchaus legitim, die Frage aufzuwerfen, ob mit allen Texten gemacht werden darf, was ein Regisseur gerade will.

Patentrezepte gibt es nicht, und keiner will wohl dahin zurück, dass nur auf die Bühne kommt, was "im Buch" steht. Die künstlerische Wahrheit kann aber auch nicht darin liegen, dass man dem Regisseur eine Allmachtsposition als dem eigentlichen Autor zugesteht. Die künstlerische Wahrheit wird erst im künstlerischen Diskurs vieler Beteiligter ausgehandelt. Nicht zuletzt das übrigens macht die Sache so ungemein spannend!

 

 

Kommentare  

#1 Text versus Inszenierung: Wer schreitet ein (im "Tierreich")?Gerald 2015-04-25 20:59
Kritiker müssen unbedingt die Texte vorher lesen, der Autor hat ganz recht wenn er sagt, die Kritiker müssten die TExte auch in Schutz nehmen. Nach einer Aufführung wie Das Tierreich, die heute beim Stückemarkt war, kann man sich nur umschauen und fragen: Wer schreitet ein, wenn ein gutes Stück von einer aufgeblasenen Regie so verhunzt wird, daß man das Stück gar nicht wiedererkennt. Ich habe die Lesung des gleichen Stücks in einem der letzten Jahre in so guter Erinnerung.

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