Die Werkeinheit ist ein Friedhof

April 2015. nachtkritik.de: Herr Heckmanns, vor kurzem ist das Verhältnis von Autoren und Regisseuren durch einen recht spektakulären Fall mal wieder ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gerückt: Die Brecht-Erben haben eine Inszenierung des "Baal" von Frank Castorf am Residenztheater München untersagen lassen, weil sie Fremdtexte enthielt und so die "Werkeinheit" aufgelöst worden sei. Können Sie mit dem Begriff der Werkeinheit in Bezug auf einen dramatischen Text etwas anfangen?

Heckmanns 250 David BaltzerMartin Heckmanns © David BaltzerMartin Heckmanns: Nein. Ich kannte den Begriff vorher nicht und er entspricht auch nicht meiner Schreiberfahrung. Ich hab fast immer Probleme mit Enden, mit Mitten natürlich auch, am wenigsten mit Anfängen und ich ändere auch ständig den Text, wenn ich ihn inszeniert gesehen habe, auch vielleicht, weil ich diese endgültige Einheit lieber aufschiebe. Oder damit ein Stück für die Bühne offen bleibt. Wenn mir Texte fertig scheinen, sind sie gleich beerdigt. Und ich freu mich dann besonders, wenn sie noch mal jemand ausgräbt, und den Leichen Beine macht, dass ich sie kaum noch wiedererkenne. Einheit klingt für mich nach Friedhof. Differenz öffnet die Wahrnehmung.

nachtkritik.de: Thomas Oberender, der Intendant der Berliner Festspiele und in einem früheren Leben auch einmal Dramatiker, hat in einem Interview mit Deutschlandradio davon gesprochen, dass das Theater der Interpreten vorbei sei, stattdessen würden am Theater nun "Autoren arbeiten, und diese Autoren nennen sich Regisseure." Man hat das dann auf die griffige Formel verkürzt: "Die Regisseure sind die neuen Autoren." Empfinden Sie eine solche Aussage als Degradierung des klassischen Autors?

Martin Heckmanns: Ich hab die Debatte verpasst, aber ich verstehe nicht, was die Autorenposition so attraktiv macht. Wenn Autor tatsächlich Ur-Heber bedeuten soll, lädt man sich ziemlich viel Anspruch auf, wer hält sich denn für den ersten Entdecker? Ich finde Stückschreiber besser. Auch weil im Stück ein Stück Dreck drinsteckt oder das Bruchstück, das noch zu ergänzen ist. Vielleicht macht das die Unterscheidung einfacher: Wer Stücke schreibt, ist Stückeschreiber. Und Stück ist ein Text, der die Bühne vermisst. Da wird's dann leider schon wieder schwierig.
Oder geht es in der Debatte um Geld? Dann bin ich für bedingungsloses Grundeinkommen, schon allein aus Neugier, wie sich die Arbeit und die Künste und das Zusammenleben verändern.

nachtkritik.de: Sie haben vor einem Jahr in einem Impuls-Referat bei der Wiesbadener Biennale gesagt: "Statt Vorschrift und Anweisung sollte ein Theatertext Angebot oder Herausforderung sein." Bedeutet das, dass Sie als Autor ganz bewusst "nur" Material liefern, das auf den Proben nach Belieben verwertet und somit auch verändert und erweitert werden kann?

Martin Heckmanns: Es gab in Wiesbaden einen jungen Schreiber, der sein Stück eine Materialsammlung genannt hat und wir haben im Seminar länger darüber gesprochen, was das bedeuten könnte, und die Mehrheit war dagegen. Es wird ja nie nur gesammelt, sondern schon in diesem Sammeln geformt und ich finde, die entstehenden Formen sollten im besten Fall überraschende Fragen an die sogenannte Realität und die Bühnenrealität stellen, dass die Antworten interessante Probleme machen. Es ist also mindestens mit Blick auf die Bühne geformtes Material, mehr oder weniger deutlich. Das bleiben immer Versuche, aber Materiallieferant klingt so anmaßend bescheiden, ich glaube es dem Schreiber nicht, ich wüsste auch nicht, wie man Material schreibt.

nachtkritik.de: Haben Sie, wenn Sie schreiben, so etwas wie eine Idealinszenierung Ihres Textes im Kopf?

Martin Heckmanns: Nein, ich bin eher neugierig auf Lösungsversuche, aber in bestimmten Betonungen oder Situationen fällt mir dann doch auf, dass ich sie mir am Schreibtisch anders gedacht habe. Konkret lässt sich das in der Komik am deutlichsten merken, weil die Pointe zündet oder nicht. Wenn der Regisseur des Witzes sagt, ich habe ihn anders interpretiert und deshalb lacht keiner, ist das ... befremdlich, hat das auch schon wieder einen komischen Effekt.
Diese Erfahrung lässt sich aber nicht nur am Theater machen. Vor Jahren habe ich einen Zeitungstext geschrieben, dessen Überschrift antworten wollte auf die Frage, was reimt sich auf den Menschen? Attention! Der Text hieß also "Attention! Menschen!", aber der zuständige Redakteur hat die Überschrift geändert in "Attention! Mensch!" Das war nicht meine Idealinszenierung. Hat aber viele interessierte Rückfragen produziert.

nachtkritik.de: Im bereits erwähnten Impulsreferat fordern Sie von den Autoren (in diesem Fall von Ihren Workshop-Teilnehmern) "Konkretion und Präzision". Nun könnte man sicher lange darüber reden, was z.B. Präzision beim Verfassen eines Textes ausmacht, aber ich möchte auf etwas anderes hinaus: Wäre diese Präzision nicht auch ein Forderung an den Regisseur? Und gibt es mithin nicht doch Grenzen, die dem Regisseur durch den Text gesetzt werden und die er nicht übertreten kann, ohne den Text zu beschädigen?

Martin Heckmanns: Ich stelle ich mir beim Schreiben immer einen freundlichen Leser vor, auch gegen die Erfahrung. Anders geht's nicht. Und der Freund ist derjenige, der einen präzise kritisieren kann. Ich wünsche mir also Freundlichkeit, aber die Grenzen dieser Freundlichkeit festzulegen, wäre unfreundlich.
Ich habe neulich das Belegexemplar meines ersten Prosabuchs geschickt bekommen und schlagartig das Theater vermisst, weil der Text im Buch genauso geblieben war, wie ich ihn geschrieben hatte. Da hab ich die Premiere vermisst, die öffnende Nacht und die Überraschung, was aus dem Text geworden ist in der Vergemeinschaftung. Lebendige Auseinandersetzung mit einem Text lässt sich nirgends schöner sehen als auf der Bühne. Was beim Prosa-Leser passiert, äußert sich ja meistens nur sehr verhalten.

nachtkritik.de: Waren Sie schon unglücklich mit Inszenierungen Ihrer Texte?

Martin Heckmanns: Ich war auch schon unglücklich mit Gesprächen und Liebesbeziehungen, aber deshalb stellt man doch keine Regeln auf, die das Gegenüber zur korrekten Interpretation verpflichten. Wenn das zu kontrollieren wäre, wäre es steril vermutlich. Und wenn ich einmal sehr unglücklich sein sollte, dann hilft die alte Theaterweisheit: Durch Leiden lernen. Das rettet jeden schlechten Abend. Und tatsächlich sind es ja die missratenen Aufführungen, nach denen sofort alles neu und anders geschrieben werden muss.

nachtkritik.de: Gäbe es einen Punkt, an dem Sie sagen würden: "Bis hierher und nicht weiter!", so wie Theresia Walser mal die Uraufführung eines ihrer Stücke noch am Abend vor der Premiere absagte?

Martin Heckmanns: Bisher nicht, aber ich bin auch noch nicht mit Ernst Jünger und Carl Schmitt vermischt worden. In der Markierung von Fremdtexten und der Kennzeichnung des Zitats oder überhaupt in der Trennung der verschiedenen Einflüsse, da hab ich bisher kaum originelle Inszenierungsformen gesehen. Das würde mich schon interessieren, ob es einen Abend nicht spannender macht, Heterogenität deutlicher zu kennzeichnen, die Unterschiede der Quellen zu betonen, verschiedene Varianten einer Szene zu zeigen. Nicht zum Schutz des Autors, sondern weil ich als Zuschauer gerne die Kombinatorik des Abends beobachten können würde, was da wie zusammengedacht worden ist. Ein Eintopf aus Texten und drüber steht ein Autorenname, das ist doch … unter- oder überkomplex.

nachtkritik.de: Wären für Sie neue Modelle der Arbeitsteilung im Theater denkbar oder gar wünschenswert? Wenn man die Aufführung als das eigentliche Werk begreift und den Text als einen ihrer Aspekte, wäre die sogenannte "Stückentwicklung", bei der der Text im Probengeschehen entsteht oder dort zumindest, von einer bewusst vorläufigen Rohfassung ausgehend, stark verändert wird, doch nur konsequent. Die Regisseure wären nicht nur die neuen Autoren, die klassischen Autoren würden nun auch zu Co-Regisseuren, sie wären unabdingbarer Bestandteil des Probenprozesses.

Martin Heckmanns: Ja, wird ja viel gemacht, oft mit tollen Ergebnissen. Meine Erfahrung mit Stückentwicklungen ist, dass man es den Inszenierungen ansieht, wenn alle Beteiligten mitgewirkt haben an der Entstehung und Formulierung und die Abende deshalb oft diese berühmte Energie haben. Andererseits führen die Gruppendynamik, die Höflichkeit in der Kommunikation unter Anwesenden auch leicht zu vorschneller Harmonisierung. Das scheint ja der Facebookeffekt zu sein, dieser vorauseilende Gehorsam, dass jede Äußerung schon im Vorfeld auf ihre Likeability überprüft wird. Also, in der Stückentwicklung entsteht vermutlich kein Hölderlin.

nachtkritik.de: Beim Film gibt es ohnehin eine Art ästhetische Verabredung, dass nicht das Drehbuch das Werk ist, sondern erst das Endprodukt, der fertige Film. Dementsprechend arbeiten dort oft mehrere Autoren an einem Skript, aus der Textebene ist sozusagen die "Werkbegriff"-Luft herausgelassen worden. Wäre das ein alternatives Modell für das Theater?

Martin Heckmanns: Ich kenne die historischen Gründe nicht, weshalb der Autor im Film eine andere Position hat, aber auffällig ist doch, dass der Zuschauer es meistens gar nicht bemerkt, wenn mehrere Autoren mitgewirkt haben. Dass es nämlich nicht zwangsläufig zu gebrochenen Perspektiven oder Vielstimmigkeit führt, sondern im Gegenteil meistens zu einer sehr allgemeinverständlichen Geschichte. Und das nervt mich zunehmend im Kino, dass sich die Schreiber hinter ihren Helden oder Anti-Helden verstecken, dass jede Wendung mit der Figurenpsychologie gerechtfertigt werden kann, und der Moment der Erfindung, der Gestaltung und der Manipulation unsichtbar gemacht wird. Da ist ein Einzel-Autor Godard immer noch schillernder als jedes mir bekannte Kollektiv.
Ich will doch Streit sehen auf der Bühne und Auseinandersetzung, auch über die Mittel, die Erzählform und die Perspektiven. Eine Inszenierung wie aus einem Guss, bei der alle Beteiligten am selben Strang ziehen, das ist dann meistens so eine Überwältigungsästhetik, die mich erschlägt und ermattet. Ich will aber lieber zwiespältig angeregt aus dem Theater kommen. Also lieber, siehe oben: Differenz.

Die Fragen stellte Wolfgang Behrens.

 

Martin Heckmanns, geboren am 19. Oktober 1971 in Mönchengladbach, Studium der Komparatistik, Geschichte und Philosophie, lebt als Autor in Berlin. Mit "Schieß doch, Kaufhaus!" wurde er in der Theater heute-Kritikerumfrage zum Nachwuchsautor des Jahres 2002 gewählt und gewann bei den Mülheimer Theatertagen 2003 für "Schieß doch, Kaufhaus!" und 2004 für "Kränk" den Publikumspreis. 2012 wird ihm der alle drei Jahre verliehene Margarete-Schrader-Literaturpreis der Universität Paderborn zugesprochen. Mehrere seiner Stücke wurden zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen.

 

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