Per Knopfdruck in die Interaktivität von Gestern

von Simone Kaempf

Heidelberg, 29. April 2015. Smarte Warteschleifenmusik dudelt im Hintergrund. Freundliche Telefonstimmen fordern auf, zwischen den Optionen zu wählen. Nächste Reise in den Süden oder lieber in die Alpen? Den Gondeliere küssen oder sich in den Canale Grande stürzen? Harmonie oder Ärger? Ständig wird man ermuntert, die Tasten eins, zwei oder drei zu drücken und sich zu entscheiden zwischen neuen Möglichkeiten, die einem "Callcenter übermorgen" als Telefonreise in "Dein ungelebtes Leben" verspricht, zu neuen Erfahrungen in fünf Dimensionen.

callcenter 700 michael bennettHinter der Jalousie in eine andere Welt: "Callcenter übermorgen" © Michael BennettZiemlich aufwändig ist die theatrale Installation, die Nina Tecklenburg, Till Müller-Klug und Lajos Talamonti unter dem Namen Interrobang entwickelt haben und die im Uraufführungs-Rahmenprogramm des Heidelberger Stückemarkt gastiert. Stellvertretend für die vielen freien Gruppen, deren Texte in anderen Arbeits-, Schreib- und Rechercheprozessen entstehen.

Wasser plätschert, Kühe glöckeln

Die Zuschauer sitzen in kleinen Telefonzellen, durch Jalousien voneinander getrennt, jeder an seinem Hörer geleitet von Stimmen im servil-freundlichen Dienstleistungston. Anfangs hat es sympathischen Charme, wenn ein Audio Travel Agent fragt, wohin man reisen möchte, Wasser gegen Holzpoller plätschert oder einen der Schweizer Bergsenner zu Kuhglockenläuten von der Wanderung empfängt. Denn ja, es ist eine schöne Aussicht, sich auf Knopfdruck kopfkinohaft in andere Welten zu versetzen, von Stimmen, die einem emotional stets zugewandt sind.

Und doch haftet "Callcenter übermorgen" etwas fast Altmodisches an angesichts der Interaktivität, die im digitalen Zeitalter möglich ist. Menüsteuerung über Telefontasten hat auch hier ihre Grenzen, so stellte man sich in den Anfängen die Zukunft vor. In dem versprochenen Möglichkeitslabyrinth gibts kein Verlaufen. In der Steuerung fehlt der Platz für Improvisation oder Ausschmückungen und man durchschaut viel zu schnell, dass im Grunde ein vorgefertigter Text audio-haptisch als Hörspiel vom Tonband vorgetragen wird. Interaktivität ist bei solchen Projekten ganz anders möglich, in Rimini Protokolls "Call Cutta" schleusten indische Callcenter-Mitarbeiter einen via Mobiltelefon auf ganz großartige Weise durch Berlin-Kreuzberg, und das ist fast schon zehn Jahre her!

Spiel des parallelen Lebens

Das Ganze bleibt nett, selbst wenn man im Blind Date einem anderen Zuschauer zugeschaltet wird und sich mit der Zufallsbekanntschaft darüber unterhalten soll, welchen Neuanfang man in seinem Leben wagen möchte. So ein zwanghaft inszeniertes Gespräch kriegt man schon rum. Aus der Gruppenchat-Schaltung über Vor- und Nachteile eines parallelen zweiten Lebens lässt es sich dezent heraushalten, man will ja auch kein Spielverderber sein, und die handvoll Beteiligter tauscht auch eher müde Freundlichkeiten aus. "Callcenter übermorgen" will ein Versuch sein, Menschen über die Möglichkeit eines anderen Lebens nachdenken zu lassen und sie mehr oder weniger zusammenzubringen. In diesem Fall: eher weniger.

 

Callcenter übermorgen
Von und mit: Nina Tecklenburg, Till Müller-Klug, Lajos Talamonti. Konzeptuelle Mitarbeit: Andreas Liebmann, Martin Schick, Dramaturgie: Kaja Jakstat, Telefoninstallation: Georg Werner, Musik und Sound: Friedrich Greiling, Bühne und Kostüm: Sandra Fox.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.interrobang-performance.com

 

 

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