Zu nahe am Wasser gebaut

von Andre Mumot

Heidelberg, 24. April 2015. Es steht ihnen noch nicht bis zum Hals, aber bald wird es soweit sein: Das Wasser dringt durch alle Häuserritzen und verursacht den Finnen beim Saufen, bei der Gymnastik und beim Nicht-Schlafen-Können nasse Füße, weshalb sie auch demnächst ihre Behausungen räumen müssen. Weil der Klimawandel unbarmherzig ist, der Meerespegel steigt und ihr ganzes Dorf zum unbewohnbaren Gebiet erklärt wird. Was kann man tun? Vielleicht noch ein paar "Lieder vom Ufer des grauen Meeres" singen – so lautet jedenfalls der Untertitel von Pipsa Lonkas wunderlichem Stück, das im letzten Jahr große Sympathie und den internationalen AutorenPreis gewonnen hat und nun eine recht unspektakuläre Eröffnungspremiere für den diesjährigen Heidelberger Stückemarkt abgibt.

Die Flut kommt

Zumal "These Little Town Blues Are Melting Away" ohnehin eigentlich gar kein Stück ist, sondern eine ausgedehnte, schrullige Erzählung, ein Text, in dem nicht viel dialogisiert, dafür umso mehr beschrieben wird – ein gewitztes Panorama von finnischen Exzentrikern und ihrem Leben am Rande oder, besser gesagt: am Ufer. Karin Schröder gibt hierfür die Erzählerin, eine auf sehr elegante Weise in die Jahre gekommene, mütterliche Abendkleid-Diva, die dann und wann am Sektchen nippt und auf deren Zuruf die kuriosen Käuze ins schlichte Bühnenrund treten, wo sie hilflos dem allgemeinen Verfall entgegenzappeln.

TownBlues 700 AnnemoneTaake uSkurrile Finnen mit Namensschildern und einer verheißungsvollen Glückszentrum-Leiterin
im Hintergrund (Elisabeth Auer) © Annemone Taake

Dass die Flut kommt und es sich hier um ein Meeres-Stück handelt, um eines mit Brise und Wellen und Horizont, wird nur durch ein paar entfernte Bojen an Taugestängen angedeutet, ansonsten bleibt alles demonstrativ trocken und der Fantasie der Zuschauer überlassen: Die finnische Regisseurin Cilia Back vertraut darauf, dass der große Atem des Erzählflusses so gut wie keine Bebilderung braucht, dass nur Schauspieler von Nöten sind, ihre Körper, ihre Stimmen, ihre Gummistiefel und ihre zu engen Skandinavier-Pullis.

Ein skurriler Haufen

Ein puristischerer Einstieg in zehn Tage Theatermarathon lässt sich also kaum denken, trotzdem mag der zarte Zauber der Vorlage sich nicht durchgehend einstellen. Der Verzicht auf äußere Illustration wird schließlich immer wieder überkompensiert durch aufgekratztes Körperspiel, durch allerhand Getrippele, Getänzele und überdeutliche Gesten, durch wildes Rufen, Haareraufen, Schluchzen und Augenrollen.

Es ist in der Tat ein skurriler Haufen, der sich da notgemeinschaftlich zusammenfindet: die unreif verwahrlosten Kinder, der verhinderte Dorf-Picasso (Andreas Seifert) und seine halbdemente Frau (Karin Nennemann) mit ihrer ausgeprägten Vorliebe für Quietscheentchen. Einer der notorischen Trinker, der grobe Jarkka (Olaf Weißenberg), hat sogar mal Gott persönlich beim Eisfischen getroffen und sich gewundert, dass der Allmächtige so wenig Glück gehabt hat beim Fang. Es funkelt eine unwiderstehliche Unschuld auf in diesen Porträts von Menschen, die Teil einer untergehenden Landschaft sind und die schließlich in ein groteskes Glückszentrum für Senioren zwangsumgesiedelt werden, wo sie nun wirklich nichts zu suchen haben.

Aufbruch nach New York

Es sind Sonderlingsgestalten, die man szenisch wohl mit Samthandschuhen und sehr viel vorsichtiger Liebe anfassen muss, die nur hingehaucht, nur leise auf die Bühne gelächelt werden dürfen. Wärme und Zärtlichkeit scheinen dann auch auf, immer wieder - nicht zuletzt, wenn mehrere finnische Volkslieder innig angestimmt werden. Allzu zu oft jedoch wird das Ensemble von der Inszenierung in ruppig laute Überdeutlichkeiten hineingezwungen, so als wären all diese versponnenen Hilkkas und Tyttis und Petteris eigentlich bloß alberne Irre und reif für eine ausgiebige Gruppentherapie.

Kein Wunder also, dass gar nicht deutlich wird, wie herrlich das Finale dieses Nicht-Stückes ist, in dem die herrische, schwierige Aila (Elisabeth Auer) einfach davonschwimmt, aufs graue Meer hinaus – eine Querulantin, die sich herauszieht aus aller hoffnungslosen Anpasserei und die es von der Ostsee aus, an Eisschollen und Pinguinen vorbei, bis zu einem menschenleeren New York treibt. Glanzlos bleibt der Bericht von diesen Wundern, nur ein paar Lichter leuchten, und was puristisch sein soll, wirkt vor allem leer. Gewiss ist es gut, nicht zu viel machen zu wollen mit dieser zerbrechlich komischen Poesie – so wenig damit anzustellen, ist dann aber wohl doch nicht genug.

 

These Little Town Blues Are Melting Away. Lieder vom Ufer des grauen Meeres
von Pipsa Lonka
Aus dem Finnischen von Katja von der Ropp
Regie und Kostüme: Cilla Back, Bühne: Csörsz Khell, Dramaturgie: Lene Grösch, Musik: Cilla Back.
Mit: Karin Schroeder, Elisabeth Auer, Karin Nennemann, Andreas Seifert, Josepha Grünberg, Elena Nyffeler, Martin Wißner, Olaf Weißenberg, Pedro Stirner
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

 

 

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